Schollaner zum Tag der Deutschen Einheit 2022

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Am 3.10.2022 gab es anlässlich des Feiertages einen Festakt im Carl-Schröder-Saal – Ron und Leon-Rob hielten dabei eine vorzügliche Festrede, mit geschichtlichem Rückblick und kritischem Ausblick. Musikalisch unterstützt wurde das kleine Programm u.a. von Jonas! Unser Bürgermeister führte mit einer Rede in die Veranstaltung ein und schloss diese mit Dankesworten sowie der Einladung, an der Veranstaltung „Sondershausen grillt“ auf dem Schlosshof teilzunehmen.

Die Rede von Ron und Leon-Rob ist unten nachzulesen – für Interessierte!

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Festrede zum 3. Oktober

Sehr geehrte Sondershäuserinnen und Sondershäuser, sehr geehrte Gäste,

(Leon-Rob)
heute vor 32 Jahren ist Deutschland wiedervereinigt worden – nach vier Jahrzehnten Ost und West geschah 1989 das, was vermutlich niemand für möglich gehalten hätte: Die Mauer, welche Deutschland in zwei ungleiche Teile trennte, fiel. Sie fiel, weil mutige Menschen im Osten auf die Straße gingen, gegen die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik demonstrierten und für ihre Freiheit einstanden, mit allen Mitteln, die ihnen zur damaligen Zeit zur Verfügung standen. Die Menschen in der DDR hatten es satt, sich von falschen Freunden und Arbeitskolleginnen und -kollegen ausspionieren zu lassen und Angst zu haben, bei einer falschen Äußerung auf’s Härteste bestraft zu werden. Die Menschen, die damals sowohl im Osten als auch im Westen für die Wiedervereinigung Deutschlands gekämpft haben, verdienen unseren größten Respekt, denn sie haben dafür gesorgt, das wir in Deutschland in Freiheit miteinander leben können. Und auch wenn wir es nicht miterlebt haben, hat der Mauerfall ebenso unsere Generation beeinflusst und geprägt. 

Als am 09. November 1989 die Mauer fiel, war der Weg zur Wiedervereinigung unseres Landes, so wie wir es heute kennen, frei. Ein Land, in dem jede und jeder einzelne das Recht hat, seine Meinung frei zu äußern und dafür einzustehen. Und ein Land, in dem jeder Mensch frei leben kann. 
Lassen Sie mich Ihnen eine kurze Geschichte erzählen: Nachdem im November ’89 die Mauer fiel, zog mein Vater mit seinen Eltern und Geschwistern aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Paderborn nach Sondershausen – in den Osten Deutschlands. Das war ja nun möglich, da es keine Grenzkontrollen oder ähnliches mehr gab. In Sondershausen lernte er meine Mutti kennen und lieben, und sie bekamen im Laufe ihres bisherigen Lebens drei Kinder – unter anderem auch mich. Ich kann also behaupten, dass ich ohne den Fall der Mauer und der Wiedervereinigung Deutschlands heute nicht hier stehen und diese Rede halten würde.
Der Mauerfall hat ein Land verbunden, das unterschiedlicher nicht hätte sein können, und er hat eine Generation hervorgebracht, die weltoffen, liberal und besonders individuell ist. Vor allem aber auch eine Generation, die begriffen hat, dass es so, wie es ist, nicht weitergehen kann. 
Durch die Wiedervereinigung Deutschlands hat besonders der Osten von den wirtschaftlichen Vorteilen des Westens profitiert und erfuhr einen Aufschwung, wie es ihn in der DDR nie gegeben hatte – das klingt gut, hatte aber auch Nachteile. Denn durch den plötzlichen Fall der Mauer mussten auch zahlreiche Betriebe schließen und ihre Mitarbeitenden entlassen. In der DDR hatten so gut wie alle Menschen Arbeit, so etwas wie Hartz IV gab es nicht – logisch, dass es unter den ehemaligen Bürgerinnen und Bürgern der DDR bis heute für Unmut sorgt, wenn sie hören, dass die Zahl der Erwerbstätigen sinkt, während Deutschland gleichzeitig einen Fachkräftemangel zu beklagen hat. Dennoch hat der Westen uns einen wirtschaftlichen Vorteil gebracht, den die Menschen im Osten Jahrzehnte vorher nie hatten. Durch den Mauerfall wurden der damaligen Generation – wie auch unserer Generation heute – aber nicht nur deshalb unzählige Chancen bereitgestellt. Chancen, die man sich vor der Wiedervereinigung Deutschlands im Osten nicht hätte ausmalen können.

(Ron)
Noch nie hatte unsere Generation so viele Möglichkeiten wie heute. So viele Möglichkeiten, die auszuschöpfen unser höchster Anspruch ist – aber auch unsere größte Last. Besuchen wir eine Realschule, ein Gymnasium, ein Fachgymnasium im Anschluss? Machen wir eine Ausbildung oder studieren wir? Studieren wir nah oder fern, regulär oder dual, in Deutschland oder im Ausland, BWL oder Japanologie? Fragen, die sich meine Eltern im Osten schlicht nicht stellen konnten. Die Eltern meiner Mutter waren nicht in der Partei, also kam Studieren für sie nicht infrage. Mein Vater musste ohnehin nach der Schule zur Armee. Die Ostgenerationen des geteilten Deutschlands kannten diese Privilegien nicht. Sie konnten nicht für ein paar Monate einen Schüleraustausch nach Amerika machen oder nach der Schule für ein Jahr nach Südafrika gehen.
Unsere Generation stattdessen beginnt bereits zu vergessen, wie privilegiert sie eigentlich ist. Und statt diese Privilegien auszukosten, brechen nicht wenige unter der Last, finden in all den Möglichkeiten zur Entfaltung nicht zu sich selbst, studieren zwanzig Jahre lang oder brechen nach der neunten Klasse die Schule ab oder reisen ihr ganzes Leben lang auf der Suche nach Sinn durch die Welt oder fangen nie an, auch nur einen arbeitenden Finger zu rühren.
In dieser Hinsicht hatte ein junges Leben im Osten zu heute einen entscheidenden Vorteil:  Es gab ein Konzept. Einen Plan.
Wir sind Generation Z – eine letzte Generation, deren Eltern ihnen nicht sagen können, in welche Richtungen sie gehen können, weil es für sie schlicht nur eine Richtung gab. Die letzte Generation, die ihre Pfade erst noch durchs Gras treten muss, mit der Machete voran, weil es noch keine Wege gibt. Die jetzt nach den Sternen greift, einfach aus Prinzip, weil ihre Eltern nicht mal fliegen konnten.
Diesen Ehrgeiz kann und muss die Politik für sich nutzen, bevor der Großteil von uns vom Himmel herunterfällt. Meine Eltern waren eingesperrt: Im Osten und in konservativen Strukturen, ihre Zukunft war ihnen vorgelebt worden. Unsere Generation möchte nun voll auskosten, frei zu sein. Doch zu mehr Freiheit gehören auch mehr Chancen, mehr Chancen zur frühen politischen Beteiligung, mehr Chancen auf hohe Bildung – und vor allem Chancengleichheit.

(Leon-Rob)
Wenn ich mit meiner Oma und meinem Opa über die Zeit vor der Wiedervereinigung spreche, bekomme ich den Eindruck, dass die DDR wie ein großes Dorf war. Es haben sich alle untereinander geholfen, jede und jeder konnte eine spezielle Sache besonders gut und verstand es, anderen zu helfen, wenn es nötig war. Das bekam man schon in der Schule vermittelt, wenn es darum ging, älteren Mitmenschen über die Straße zu helfen. Wenn ich mir dann Deutschland heute angucke, habe ich das Gefühl, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der die meisten nur noch auf sich selbst achten und es nicht mehr als selbstverständlich betrachten, anderen ohne eine Gegenleistung einfach mal zu helfen.
Das ist sehr schade und muss sich wieder ändern, denn, wenn jeder Mensch nur auf sich selbst achtet, bekommt man nichts mit von den Problemen, die andere haben, und man rückt immer weiter auseinander, anstatt zusammenzukommen und die Probleme der heutigen Zeit gemeinsam anzugehen. 
Wie plötzlich die Mauer fiel, wird auch deutlich, wenn man sieht, wieviel sich innerhalb einer Nacht für die Bürgerinnen und Bürger der DDR änderte. Es gab eine neue Währung, ein neues Wirtschaftssystem und vieles mehr. Die Menschen hatten gar keine Zeit sich darauf vorzubereiten, sie mussten halt einfach damit zurechtkommen und damit leben. Ich verstehe die Kritik von ehemaligen DDR Bürgerinnen und Bürgern an der Einheit – denn wie soll man sich fühlen, wenn von heute auf morgen die Ersparnisse vieler Jahre einfach entwertet werden – oder die Höhe des Lohns sich noch nach 32 Jahren Wiedervereinigung in Ost und West unterscheidet? Eine Sache, welche sich im Sinne der Gerechtigkeit ändern muss, um von wirklicher Gleichheit sprechen zu können.

(Ron)
Denn Deutschland mag seit 1990 zwar vereint sein, doch auch im Jahre 2022 sind Ost und West noch immer nicht gleich. Und das kriegen auch wir zu spüren. Und wir gehen. Und der Osten stirbt aus.
Denn warum sollen wir bleiben, wenn man im Osten noch immer schlechter bezahlt wird als im Westen?
Warum sollen wir bleiben, wenn der Osten noch immer schlechter angebunden ist als der Westen?
Warum sollen wir bleiben, wenn der Osten noch immer schlechter vernetzt ist als der Westen?


Die Westflucht läuft auf einen neuen Höchststand zu. Und während sich die Jugend dort konzentriert, „vergreist“ der demografische Wandel den Osten. Laut eines Statistikberichts des Statistischen Bundesamtes zur „Bevölkerungsentwicklung in Ost- und Westdeutschand zwischen 1990 und 2021“ lebten 2020 in Westdeutschland fünfmal so viele Menschen wie in den neuen Bundesländern – gleichzeitig stieg dort der Anteil der Ü-65-Jährigen von 15 auf 22% innerhalb der letzten 30 Jahre. Diese Entwicklung zeigt sich nicht zuletzt in Sondershausen besonders deutlich: Wie viel Energie steckt die Stadt zurzeit in den Stopp der Landflucht der Schulabgehenden? Wie viel Energie in ihre Rückkehr? Ich sage Ihnen: In meinem Freundeskreis gibt es genau eine Person, die sich derzeit sicher ist, nach dem Studium hierher zurückzukehren. Und auch ich selbst werde ganz Thüringen wohl den Rücken kehren, weil es mir – wie weiten Teilen meiner Generation – so vorkommt, als spiele sich das Leben im ehemaligen Westen ab. Lohnungleichheit, Modernisierungsdefizite, veraltete Strukturen – 30 Jahre nach der Wende, doch im Großen und Ganzen erscheint es mir und vielen anderen in meinem Alter, als hätten wir nichts erreicht.

Der heutige Tag ist ein Feiertag. Wir feiern die Wiedervereinigung eines Landes – unseres Landes, dass sich seit dem Jahre 1990 wie ein Phoenix aus der Asche zu einem der mächtigsten Länder unseres Planeten erhoben hat. Und es ist ein Tag der Erinnerung. An vergangenes Glück und Leid, an gesprengte Ketten, an Freiheit. Es ist ein Tag der Vergangenheit – aber es muss auch ein Tag der Zukunft sein. Ein Tag, an dem wir unsere Stimmen erheben, um etwas wie eine solche Spaltung Deutschlands nie wieder geschehen zu lassen. Ein Tag, an dem wir darauf aufmerksam machen, wie wichtig es ist, sich dafür einzusetzen, Deutschland auch 32 Jahre später noch weiter zu vereinen. Um Gleichheit zu schaffen, Einheit, und eine Zukunft für den Osten – und für uns.

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