Ein alter Nussbaum, im Sommer spendet er Schatten, im Herbst wirft er goldene Blätter und Früchte ab. Wenn man genau hinhört, scheint er Geschichten zu erzählen. Geschichten aus einer anderen Zeit.
Was kaum jemand weiß: Dieser Baum stammt aus einem Garten, der über 700 Kilometer entfernt liegt, in einem kleinen Ort in Oberschlesien, der heute zu Polen gehört. Dort lebte einmal meine Uroma Rosa „Rosel“ Rohrmann, geboren am 4. Juni 1926 in Jarischau. Sie pflanzte diesen Baum als Erinnerung an ihr Zuhause, das sie im Winter 1945 für immer verlassen musste. Ihre Flucht aus Schlesien ist eine Geschichte geprägt von Angst, Hoffnung, Verlust und Mut, den man sich heute kaum noch vorstellen kann.


Ihre Kindheit war einfach, aber liebevoll. Die Eltern, Franz und Martha Schoppa, waren Maurer und Hausfrau und kümmerten sich stets um ihre fünf Kinder. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten änderte sich auch für Rosel vieles. Schon mit zehn Jahren wurde sie Mitglied im „Bund Deutscher Mädel“, der Hitlerjugend. Wie alle 14-jährigen Mädchen absolvierte sie 1940 ihr sogenanntes Landjahr, um Landwirtschaft und Hausarbeit zu lernen. Danach begann sie eine Lehre als Verkäuferin und arbeitete bis 1944 in diesem Beruf, bis der Krieg auch ihre Heimat erreichte.
Als die Ostfront immer näher rückte und furchtbare Berichte über Gewalt und Vergewaltigungen durch die Rote Armee bekannt wurden, überredeten ihre Eltern die 18-jährige Rosel, allein in Richtung Westen zu fliehen. Ende Januar 1945 machte sich Rosel gemeinsam mit einer Nachbarin auf den Weg. In eisiger Kälte, bei minus 15 Grad, ohne Essen und ohne zu wissen, wohin sie eigentlich flüchten sollte.
Die Züge waren überfüllt mit Frauen, Kindern und älteren Personen. Immer wieder mussten sie anhalten, weil Tiefflieger Bomben abwarfen. Dann sprangen die Menschen panisch aus den Waggons, suchten Schutz im Schnee, krochen unter die Züge. Hunger, Erschöpfung und Angst begleiteten sie Tag und Nacht. Nach Tagen voller Kälte und Schrecken kam Rosel in Dresden an, einer Stadt, die bald selbst zum Schauplatz eines unfassbaren Elends wurde. Nur wenige Tage, nachdem sie weitergereist war, zerstörten Bombenangriffe zwischen dem 13. und 15. Februar 1945 fast die gesamte Stadt und töteten zehntausende Menschen. Rosel hatte Glück – wieder einmal.
Über viele Stationen gelangte sie schließlich nach Erfurt und von dort reiste sie weiter. In Greußen kam sie für einige Tage in einer Schule unter, ehe sie Ende Februar 1945 nach Otterstedt gelangte – und 700 Kilometer entfernt von ihrer Heimat. Dort fand sie Arbeit als Hausmädchen, Küchenhilfe und Kindermädchen auf einem Landgut. Das Leben war hart, aber sie hatte ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen. Trotzdem litt sie unter Heimweh und unter dem Hass vieler Einheimischer. Viele Dorfbewohner beschimpften sie als „Pollackenweib“, weil sie aus Schlesien kam. Sie konnte ihnen kaum erklären, dass auch sie Deutsche war, aus einem Land, das durch die neuen Grenzen plötzlich nicht mehr deutsch war.


1946 kehrte der 22-jährige Soldat Ernst Rohrmann aus der Kriegsgefangenschaft in seine Heimat Otterstedt zurück. Er arbeitete als Pferdeknecht auf demselben Gut wie Rosel. Die beiden verliebten sich und heirateten im Mai 1947, bekamen zwei Töchter. Eine davon war meine Oma Karin.
Erst zwei Jahre nach Kriegsende erhielt Rosel den ersten Brief ihrer Eltern. Der Kontakt war schwer, die Postverbindungen in den ehemaligen Ostgebieten funktionierten kaum. Erst 1957, zwölf Jahre nach der Flucht, konnte sie ihre Familie in Jaroslawice (so hieß Jarischau nun auf polnisch) wiedersehen. Von diesem Besuch brachte sie eine Nuss aus dem Garten ihrer Eltern mit. Sie pflanzte sie in Otterstedt ein. Der Baum wuchs, wurde groß und stark. Noch heute steht er in unserem Garten und erinnert uns an meine Uroma Rosel und die unvorstellbare Geschichte ihrer Flucht, ihres Ankommens, aber auch an die Diskriminierung, die sie erfuhr. Oft saß sie später unter diesem Baum. Still, nachdenklich, mit Erinnerungen, über die sie nur schwer sprechen konnte.
Rosels Geschichte steht stellvertretend für Millionen von Menschen, die im Winter 1944/45 aus den Ostgebieten fliehen mussten. Die sogenannte Weichsel-Oder-Offensive der Roten Armee löste eine Massenflucht aus: Über zehn Millionen Menschen machten sich in eisiger Kälte auf den Weg – zu Fuß, mit Handwagen oder überfüllten Zügen. Etwa ein bis zwei Millionen überlebten diese Flucht nicht. Die Menschen flohen aus Angst vor Gewalt, Hunger, Kälte und dem, was sie in den Nachrichten über die sowjetischen Soldaten gehört hatten. Die Straßen waren verstopft, es gab kaum Nahrung, Krankheiten wie Typhus breiteten sich aus. Viele starben an Erschöpfung oder bei Angriffen aus der Luft.
Nach dem Krieg veränderte sich die Landkarte Europas völlig. Polen verlor Gebiete im Osten an die Sowjetunion und erhielt dafür Schlesien und Pommern, die nun „polonisiert“ wurden. Deutsche, die dort blieben, wurden oft misshandelt, enteignet oder vertrieben. Die deutsche Sprache wurde verboten, Orte umbenannt und Friedhöfe zerstört. Millionen verloren ihre Heimat. Auch die Familie meiner Uroma musste die deutsche Identität hinter sich lassen. Drei ihrer Geschwister siedelten in den 1950er-Jahren in die Bundesrepublik über. Ihre Eltern und die jüngste Schwester blieben in Polen und versuchten sich anzupassen, um ihr Zuhause nicht endgültig zu verlieren.
Rosels Geschichte ist Teil unserer Familiengeschichte, aber auch Teil der deutschen Geschichte. Sie zeigt, was Krieg bedeutet: Verlust, Angst, Chaos, Entbehrung, Hass, Intoleranz und Diskriminierung – aber auch Mut, Hoffnung und den Willen, neu anzufangen.

Der Nussbaum in unserem Garten steht bis heute als Symbol für all das, was sie hinter sich lassen musste und für das Leben, das daraus trotzdem entstanden ist. Ohne ihre Flucht, so traurig sie war, gäbe es mich heute nicht.

Ohne die Flucht vieler dieser Menschen gäbe es heute einige von uns nicht. Sie sind Teil von unserer Familiengeschichten und erinnern uns daran, dass wir „Haltung zeigen!“, aus der Geschichte lernen, tolerant, demokratisch, friedlich und fürsorglich miteinander umgehen sollten!
Mia Abicht
